

Michael starrte auf die vom Regen durchnässte Erde.
Das Loch im Boden war schmal, kaum breiter als die Urne, an die ein Bild seiner Grossmutter Elisabeth lehnte. Ihr lachendes Gesicht war kaum erkennbar – die Regentropfen verschleierten die Sicht. Sogar als sie im Sterben lag, hatte sie noch immer gelacht. Er fragte sich, ob das Loch gross genug war – nicht, weil er sich Sorgen machte, sondern um der traurigen Realität zu entkommen. Neben ihm tropfte der Schirm seiner Mutter leise. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Niemand sprach. Nur der Regen.
Elisabeth, die Einzige, die wusste, wie man seinen Kakao richtig anrührte – nicht zu süss, nicht zu dünn. Es war seltsam, bei einer Beerdigung an Kakao zu denken, aber dieser Gedanke gab ihm Trost, und er hielt daran fest.
Doch als er in Erinnerungen schwebte, kam ihm wieder dieser eine Frühlingstag im letzten Jahr in den Sinn.
Er radelte zu seiner Grossmutter. Und sah ihren Apfelbaum schon von weitem gesehen – zugegebenermassen war er kaum zu übersehen, er war der einzige Baum, der so schön weiss blühte. Elisabeth sass auf der Veranda vor ihrem Haus und strickte. Der Baum spendete ihr Schatten. Er legte sein Fahrrad einfach in den Rasen neben ihrem Haus. Sie hatte Michael daran erinnerte, dass seine Mutter nicht mehr lange leben würde und er das Beste aus der Zeit mit ihr machen solle.
«Wird das mein letztes Mal bei ihr sein?», hatte er sich gefragt.
«Ich habe dich schon kommen hören – dein Fahrrad quietscht wie ein alter Rabe. Komm hoch, der Tee wird sonst kalt», sagte Elisabeth.
Das liess sich Michael nicht zweimal sagen. Sie schlürften eine Tasse Minze Tee – auch dieser war genauso, wie er ihn mochte. Die Schafe vom Nachbarn grasten auf der Wiese vor ihnen. Die Glöckchen der Tiere hatten ihm schon unzählige Male beim Einschlafen geholfen.
Doch die Frage, ob das hier der letzte Besuch war, ging ihm nicht aus dem Kopf.
Konnte er sie das einfach fragen?
«Irgendwas beschäftigt dich, nicht wahr, Grosser?» Elisabeth schaute ihn an.
«Ja … Mama hat gesagt, dass das mein letzter Besuch sein könnte. Ist das wahr?»
Sie hörten den Wind, der leise pfiff.
Michael durchbrach die Stille.
«Grosi, ich wünschte, dass das hier niemals endet.»
«Sag so etwas nicht. Wenn alle schönen Dinge nie enden würden, wären sie nicht schön, oder?», sagte Elisabeth.
Sie zeigte auf den blühenden Apfelbaum:
«Schau, die Blüten dort am Apfelbaum – sie werden bald weg sein. Dann wird der Baum nicht mehr weiss strahlen. Doch die Blüten machen Platz für die Frucht. Jedes Ende ist ein neuer Anfang. Denk lieber daran, wie schön sie waren – und nicht, dass sie nicht mehr da sind.»
Für einen Moment stand Michael still, die Gedanken wirbelten durcheinander. Dann sprach er leise:
«Trotzdem … ich habe Angst, dich zu verlieren. So wie damals, als Schneeball davonlief.»
«Sie war eine grossartige Katze, oder?», sagte Elisabeth.
«Ja, natürlich war sie das», antwortete Michael.
«Dann denk an die grossartige Zeit, die ihr zusammen verbracht habt.»
«Ich habe immer noch Angst, dich zu verlieren.»
«Das verstehe ich gut. Doch irgendwann wirst du es verstehen.»
Es folgten kalte Wochen mit viel Regen. Die Blüten welkten, und kleine Äpfel wuchsen.
Michael fuhr ein letztes Mal zu seiner Grossmutter – doch das Haus war leer.
Die Tränen schmeckten salzig auf seinen Lippen. Die Stille lag schwer auf ihm.
Der Regen hatte noch nicht aufgehört. Er sah lange auf das Bild von Elisabeth.
Er dachte an den perfekten Kakao, an die vielen Male, in denen sie Kuchen backten, an den herrlichen Apfelsaft, an die Glöckchen der Schafe und an Schneeball.
Eine Träne lief ihm über die Wange.
Doch diese Träne war besonders – sie fühlte sich warm an.
Ein Lächeln übernahm sein Gesicht.